Heute schon einen Prozess optimiert?

Kategorien: Wirtschaft, Prozesse, Zukunftsfähigkeit

Stromausfall

Ich schreibe meine Rezensionen, sobald ich ein Buch in Ruhe gelesen und darüber nachgedacht habe. Diesmal kam ich anfangs aber gar nicht dazu, das geplante Buch zu lesen, ständig kam irgendwas dazwischen. Ich fühlte mich von meinem selbsterzeugten Zeitdruck irgendwie gelähmt und wunderte mich, wieso ich nicht dazu kam, mich hinzusetzen, um ganz entspannt einfach mal ein Buch zu lesen. Bis dann Folgendes geschah.

Heute morgen fiel plötzlich und ohne Ankündigung der Strom aus. Und zwar nicht nur bei mir in der Wohnung oder im ganzen Haus, sondern – wie sich später herausstellte – in der gesamten Umgebung. Zuerst dachte ich, es liefe ab, wie es beim letzten Stromausfall abgelaufen war: in zwei Räumen war der Strom noch da, aber nicht in den übrigen. Doch diesmal war alles anders. Es gab keinen einzigen Raum, in dem der Strom noch da war! Also fiel auch die Möglichkeit weg, mittels eines Verlängerungskabels das Gefriergut im Gefrierfach noch irgendwie zu retten. Weg fiel auch die Möglichkeit, mich in den Router einer hilfsbereiten Nachbarin einzuwählen, bis mein eigener wieder Netzkontakt bekommen würde. Ok dachte ich, dann nutze ich mein Smartphone. Wozu habe ich denn eine relativ große Datenflat? Doch zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass auch das komplette Funknetz ausgefallen war … — Absolute Funkstille! Ich war noch nicht einmal imstande, meine Online-Meetings abzusagen, die ich aufgrund des Stromausfalls nicht wahrnehmen konnte. Geradezu geschäftsschädigend, da mein Geschäftsmodell ausschließlich digital funktioniert. Aber auch nicht zu ändern. 

Es gibt keine Zufälle

Da ich der Situation etwas Positives abgewinnen wollte, griff ich zu dem Buch von Gunter Dueck, das ich ja längst hatte lesen wollte. Während der Lektüre kam in mir immer mehr der Verdacht auf, dass der aktuelle Stromausfall etwas mit den in diesem Buch beschriebenen Prozessen zu tun haben könnte. Ich kann mich nicht erinnern, dass es „früher“ so häufig vorkam, dass der Strom ungeplantermaßen war. So etwas hatte ich in meiner Wahrnehmung eigentlich nur mit wirtschaftlich unterentwickelten Ländern in Verbindung gebracht, aber bei uns in Deutschland?! Und dennoch erlebte ich nun im Abstand von wenigen Monaten bereits den zweiten Stromausfall mitten in Frankfurt. Was ist anders geworden in unserem Land? Sind wir noch in der Lage, unsere Infrastruktur auf einem Niveau zu erhalten, das dem Qualitätsstandard „Made in Germany“ gerecht wird?

Doch was hat mein Stromausfall nun mit Gunter Duecks Buch „Heute schon einen Prozess optimiert?“ zu tun?

Die Grundthese lautet: „Wenn eine Sintflut kommt, so baue Schiffe, keine Deiche.“ 

Übertragen auf die Situation in vielen Unternehmen, sieht es leider kollektiv heute so aus, als ob die meisten Manager „das große Ganze“ aus dem Blick verloren haben. Sie lehren die Menschen nicht mehr „die Sehnsucht nach dem weiten Meer“, sondern sie verbessern nur noch Details an Produkten, die schon bald gar nicht mehr vom Markt nachgefragt werden dürften. Der immer gestresstere Fokus auf die eigenen Füße müsste aber abgelöst werden vom Blick in die Ferne. Sonst sind unsere Unternehmen nicht mehr zukunftsfähig. Vielleicht sind wir am Standort Deutschland schon heute abgehängt von den innovativeren und kreativeren Start-ups in Fernost und den USA? Vielleicht ist es auch schon zu spät für wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel? Vielleicht leiden nicht nur die deutschen, sondern viele global aktiven Konzerne unter dem kurzsichtigen Blick auf die Effizienzsteigerung der eigenen Prozesse? 

Die zentralen Baustellen Bildung, Digitalisierung und Innovation sind wir kollektiv gerade im Begriff zu verschlafen.

Wir leben in einem Zeitalter der höchsten Möglichkeiten, die die Menschheit jemals hatte, aber wir nutzen unsere Mittel zu wenig für das Wohl der Menschheit. 

Warum das so ist, wird von Gunter Dueck damit erklärt, dass das Management der meisten Unternehmen unter einer Systemneurose leidet. Das richtet sich natürlich nicht gegen die einzelnen Verantwortlichen als solche. Privat sind sie nette Menschen. Aber in ihrer Funktion als Manager richten sie ihren Fokus auf die falschen Ziele. Es ist schlicht Zeitverschwendung, einen Deich zu bauen, wenn eine Sintflut droht. 

Kleiner Exkurs zu meinem – leider seit Stunden andauernden – Stromausfall: Ich frage mich gerade, worin die Ursache liegen könnte. War es „nur“ ein Baggerunfall, der versehentlich ein Kabel erwischte? Das könnte ja noch mit herkömmlichen Mitteln einigermaßen zügig abgearbeitet werden. Dieser Vorgang kommt „öfter“ mal vor, ist also bekannt, und die zur Behebung des Schadens erforderlichen Methoden sind eingeübt. Doch was wäre, wenn die Ursache beispielsweise in einem Hackerangriff lag? Immerhin sind ja das Strom- und das Handynetz gleichzeitig weg. Davon liest man ja eigentlich nur in Science Fiction Romanen, nicht wahr? Ist ein solches Szenario aber auszuschließen? Ich denke nicht. Allerdings habe ich auch keine Kenntnis darüber, ob unsere Unternehmen und Behörden sich bisher ausführlich genug mit solchen Szenarien auseinandersetzten. Sollte bei unseren Energieversorgern und Telekommunikationsbetrieben dieselbe von Gunter Dueck angeklagte Firmenkultur herrschen, dann gnade uns Gott bei einem Ernstfall! Dann gibt es nämlich in diesen Betrieben keine innovativen Strategen, auf die man rechtzeitig hätte hören können, um vorbereitet zu sein auf völlig neue „Sintflut“-Szenarien. – Ich sitze also nun am Fenster, um sicherzustellen, dass ich mitbekomme, wenn mich jemand besuchen möchte, oder wenn die Post ein Paket bei mir abgeben will. Es gibt noch ein paar wenige Dienstleister, die auch ohne Strom weitermachen können: die Post liefert weiter aus, kann aber nicht an den Haustüren klingeln, weil die Klingeln mit Strom betrieben werden und die Leute in den Wohnungen sie nicht hören. Die Müllabfuhr fuhr eben auch hier vorbei und leerte die Tonnen wie üblich. Das klappte aber nur, weil deren LKWs mit Diesel fahren und noch nicht auf Strom umgestellt wurden. Sie sehen, in diesem Fall ist es von Vorteil, nicht auf Strom angewiesen zu sein. Was ist denn in Sachen Mobilität nun die tragfähigste Lösung mit Zukunftspotenzial? 

Gunter Dueck hat einfach recht, wenn er einfordert, dass unsere Unternehmen sich stärker mit dem größeren Zusammenhang befassen sollten. Wie muss denn das „Schiff“ aussehen, das hier gebaut werden soll, bevor die „Sintflut“ eintritt? Um diese Frage beantworten zu können, brauchen Mitarbeiter aber Zeit statt Zeitdruck.

In den Unternehmen herrscht jedoch stattdessen Druck, Gegendruck, Angst vor Fehlern, die zur Entlassung führen könnten, wodurch letztlich eine „Zwangsneurose im Unternehmen“ entsteht. 

Dieser immense Druck auf die Quantität verschlechtert die Qualität bis in den Bereich der strafrechtlichen Relevanz. Man denke nur an den Dieselskandal, CumEx-Geschäfte, Ruhigstellung von Senioren in Pflegeheimen, Gift in Lebensmitteln und vieles mehr. Dieser Druck belastet die Mitarbeiter, kann zu Depressionen oder zum Burnout führen und tut es nicht selten auch. Gunter Dueck stellt fest, dass „über den Menschen hinaus“ zudem auch „alle Infrastrukturen verwirtschaftet“ werden. „Fast nichts ist in Deutschland noch ‚gut in Schuss‘ (Bildung, Pflege, Autobahnbrücken etc.).“ Die untaugliche Ausrüstung unserer Bundeswehr wurde bereits zur Genüge zum Gespött so mancher Fernsehsendung. Kriegen wir mittlerweile nicht einmal mehr unsere „normalen“ Standards hin? Von Innovation und Fortschritt haben wir noch gar nicht gesprochen.

Gunter Dueck „will das heute normale Management, das sich selbst über Effizienz, Arbeitsdruck und Prozessorientierung definiert, als eine mächtige Dressurmaschine erklären, die uns Mitarbeiter immer stärker normt und zu ‚Prozess-Sklaven‘ macht“. 

Soeben erfahre ich, dass die Ursache des heutigen Stromausfalls ein Brand in einem Umspannwerk war. Ungefähr 100.000 Haushalte waren für mehr als sechs Stunden ohne Strom.

Der geschätzte Schaden beläuft sich auf 150.000 Euro.

Und dabei sind die ganzen Arbeitsausfälle der Geschäftsleute noch nicht mitgerechnet. Schöne neue Welt! Und dennoch haben wir „Glück gehabt“, denn die Schadensursache war mehr oder weniger beherrschbar, also noch durch „Deiche reparieren“ wieder zu beheben. Es war keine „Sintflut“ gekommen, sondern lediglich ein „normaler“ Schaden entstanden, der mit unseren bisherigen Mitteln behoben werden konnte. Alle freuen sich, dass sie wieder zur Tagesordnung übergehen können. Diesmal haben wir Glück gehabt. Doch die Zukunft bleibt weiterhin ungewiss. 

Ich lese das Buch weiter, obwohl der Strom wieder da ist. Es ist einfach zu spannend, um es jetzt wegzulegen.

Inzwischen geht es um die Frage, welche Art von Führungspersönlichkeit heutzutage in Unternehmen bevorzugt wird.

Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass sich durch die regelmäßigen Fehlbesetzungen in der Führungsetage „eine unselige Spirale zu drehen beginnt, die die Unternehmenspsyche in eine veritable Neurose laufen lässt.“ Also keine guten Aussichten für unsere Wirtschaft. Die Ursache? Nun, „das Unternehmen bekommt Schlagseite und wird in der Folge krank, weil es in den oberen Etagen viel zu wenig Fachkompetenz, soziale Kompetenz und Zukunftskompetenz hat.“ Das hat gesessen! 

Gunter Dueck belegt auf über 300 Seiten, dass es tatsächlich so ist, wie er es beschreibt, und er erläutert, wie es dazu kommen konnte. Bei vielen Firmen fragt man sich angesichts vorangeschrittenen Outsourcings heute allen Ernstes, was das Unternehmen eigentlich noch selbst macht. 

Viele Konzerne, aber auch kleinere Firmen, haben ihr komplettes IT-Management outgesourct und sind nun im Würgegriff derer, an die sie ihre Kompetenzen abgetreten haben.

Fragt sich nur, ob der Mahnruf des Autors gehört wird oder im Nichts verhallt. Unzählige Mitarbeiter in großen Firmen, vor allem jene mit Burnout oder kurz davor, werden die Unternehmenskultur ihrer Firma in jeder Zeile dieses Buches wiederfinden. Sie werden verstehen, dass nicht SIE verrückt sind, sondern DAS SYSTEM als Ganzes in eine kranke und krank machende Spirale geraten ist. Höchste Zeit zum Umdenken! Höchste Zeit, die reinen Verwalter und Befehlsempfänger dieser Welt in die zweite Riege zu stellen und die Kreativen, die Denker, die Innovativen an die Spitze von Unternehmen zu befördern! Es kann nicht länger darum gehen, Situationen bloß zu verwalten oder graduell zu verbessern. Wir müssen komplett neue, bisher noch nie dagewesene Situationen bewältigen. Und dabei helfen uns die gestrigen Vorgehensweisen nicht, auch nicht in optimierter Form. 

Gunter Dueck rät den Unternehmen und uns als Gesellschaft: „Die Deiche sind vielleicht schon so hoch, dass man das Meer nicht mehr sehen kann. Gehen Sie dem Rauschen nach. Schauen Sie in die endlose Weite. Bauen Sie Schiffe.“

Ich wünsche uns allen, dass die Sehnsucht nach dem weiten Meer uns zeigt, wie wir diese Schiffe bauen.

Herzliche Grüße
Renate Wettach


Autor: Gunter Dueck
Hardcover: 328 Seiten
Verlag: Campus Verlag
Auflage: 12.02.2020
Preis: 24,95 €

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