Kategorien: Politik, Wirtschaft, Kultur, Religion

Den Autoren Robert Gerlach und Robert Chatterjee (Hg.) ist eine breit gefächerte Zusammenstellung unterschiedlicher Aspekte über das heutige Libyen gelungen. Obwohl es sich im strengen Sinne des Wortes nicht um ein Geschichtsbuch handelt, wird die Geschichte Libyens dennoch transparent dargelegt. Vor allem aber kommen die Menschen, die in Libyen leben, zur Sprache. In Interviews erzählen sie von ihren vergeblichen Hoffnungen und unerfüllten Träumen, aber auch davon, was sie trotz Bürgerkrieg und Unruhen physisch und emotional am Leben hält. Die geschilderten Traumata zu verkraften, ist keine einfache Aufgabe. Das Buch schildert die heutige Gesellschaft Libyens in ihrer ganzen Zerrissenheit. 

„Es geht darum, Klischees zu hinterfragen, und zu zeigen, was Menschen verbinden kann. Und nicht nur das, was sie heute trennt.“

Allerdings wird schnell auch klar, welche Rolle Europa in Bezug auf die heutige Misere spielt, die sich seit dem Sturz Gaddafis verschärfte.

Menschen, die auf der Flucht in Libyen landeten, kommen zu Wort. Ebenso Frauen, die von ihren Männern im Stich gelassen, für ihre Kinder eine neue Zukunft anstreben. Es ist die Rede von schrecklichen Schicksalen und gnadenlosem Ausgeliefertsein in lebensbedrohlichen Situationen. 

Hier ein paar Beispiele aus dem Buch:
„Die Internationale Organisation für Migration (IOM) schätzt, dass etwa 9.300 Menschen in Haftanstalten im konfliktreichen Land festgehalten werden, von denen viele unter der Kontrolle von Milizen stehen. Und diese Schätzung umfasst nur die Migranten, die in offiziell gemeldeten Gefängnissen untergebracht sind. Weitere Tausende fristen ihr Dasein in informellen Haftanstalten, die von bewaffneten Gruppen, Schleusern und Menschenhändlern betrieben werden. Migranten werden entweder während des Transits durch das nordafrikanische Land in die Haftzentren gebracht oder beim Versuch, Europa auf dem Seeweg zu erreichen, von der libyschen Küstenwache abgefangen.“ 

„Sara, 29 Jahre alt, floh vor über einem Jahr aus der Elfenbeinküste.“ Die Männer, die ihren Mann umgebracht hatten, drohten ihr mit dem Tod. „Sara war plötzlich auf sich allein gestellt und musste sich zudem um ihre drei Kinder kümmern. Ein deutlich älterer Mann bot sich als Ehemann an, unter einer Bedingung: Sie hätte sich vor der Hochzeit einer Prozedur zur Genitalverstümmelung unterziehen müssen. Das kam für Sara nicht in Frage. Sie nahm Reißaus.“ Damit war ihre Leidensgeschichte aber noch lange nicht zu Ende. Es folgen grauenhafte Monate voller Ausbeutung, Vergewaltigungen, Hunger, Durst, Flucht durch die Wüste, Trennung von ihren Kindern und mehr.

Unterschiedliche Milizen leisten sich gegenseitig erbitterte Kämpfe. Die Bevölkerung ist im Wesentlichen damit beschäftigt, nicht zwischen die Fronten zu geraten, um zu überleben. 

„Das Land verliert bis zu 750 Millionen Dollar pro Jahr durch Kriminelle, die systematisch jeden politischen Vermittlungsprozess sabotieren, um den illegalen Handel aufrechtzuerhalten.“

In dem facettenreichen Buch lernt der/die Leser/in auch viel über die Kultur in Libyen. Ein relativ neu gegründetes Dinosaurier-Museum wird vorgestellt, Frauen werden interviewt, die gemeinsam Fußball spielen, dies aber nicht öffentlich dürfen und daher Mittel und Wege finden, um ihr Selbstbewusstsein und das anderer Frauen zu stärken und die Hoffnung nicht aufzugeben. 

Ergänzt werden die ergreifenden Erzählungen durch beeindruckende Farbfotos mit Seltenheitswert

Wenn Sie den Mut haben, dieses Buch zu lesen und sich dem Thema zu stellen, werden Sie die Migrationsbewegung mit neuen Augen sehen. Das verspreche ich Ihnen.

Herausgeber: Daniel Gerlach, Robert Chatterjee

Taschenbuch: 222 Seiten

Verlag: Deutscher Levante Verlag (Nova MD)

Auflage: 1 (15. Januar 2020)

Preis: 13,80 Euro

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